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Dienstag, 14. Juli 2015

Im Zweifel gegen diese EU


Vor über zehn Jahren saß ich im Publikum eines europapolitischen Podiums beim Sommercamp der JungdemokratInnen/ Junge Linke. Dort sprach Tobias Pflüger, damals frischgebackener Europaabgeordneter darüber, warum der Entwurf für die EU-Verfassung abzulehnen und die linke „Nein“-Kampagne in Frankreich hingegen zu unterstützen sei. Trotzdem bemühte sich Tobias auf eine Teilnehmerfrage hin zu betonen, müsse Deutschland in der EU bleiben, weil ein auf sich gestelltes Deutschland zu gefährlich für Europa sei, wie die historische Erfahrung zeige. Sieben Jahre später argumentierte der linke Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko ähnlich in einer Runde von LINKE-Mitgliedern, bei der es um den europapolitischen Teil des Erfurter Grundsatzprogramms ging. Die EU sei definitiv neoliberal, undemokratisch und forciere Militarisierung, aber ein Kampf um ihre Auflösung sei dennoch falsch, weil sonst Schlimmeres drohe. Ich wähle hier Tobias und Andrej als „Kronzeugen“, weil an der demokratiepolitischen und anti-neoliberalen Street Credibility der beiden kein Zweifel besteht. Bis Mitte Juli 2015 konnten anti-neoliberale Linke m.E. nur wie eben zitiert begründen, warum man trotz alledem eine linke Politik innerhalb der EU verfolgen möchte. Nachdem von Sonntag auf Montag eine Vereinbarung abgeschlossen wurde, die von Seiten der Geldgeber zum ausdrücklichen Ziel hat, Griechenland zu demütigen, seiner linken Regierung ein deutliches Scheitern beizubringen und die Austerität zu dementieren, muss die Diskussion neu geführt werden.

Mittwoch, 11. Februar 2015

AfD und Rechtspopulismus: Noch klüger, als wir glauben


Die alten linken Denkschablonen funktionieren nicht mehr. Die AfD ist keine faschistische Partei, sie ist keine NPD und wird es auch aller Voraussicht nach nicht werden. Die versuchte Stigmatisierung von links entlang dieser bekannten Schablonen führt fatal in die Irre. Man arbeitet damit auch vorbei an dem tatsächlichen Rechtsruck in der bundesdeutschen Gesellschaft, wie er sich mal mehr, mal weniger sichtbar, derzeit vollzieht.
Der Göttinger Fachkollege David Bebnowski [i] hat einen klugen Kommentar [ii] geschrieben, dessen Argumentation ich in fast allen Punkten teile und hier zum Teil ergänzen möchte (alle Zitate sind, wenn nicht anders gekennzeichnet, aus seinem Blogbeitrag). Wo ich die Argumentation nicht teile, sehe ich erheblichen Verständigungsbedarf unter den KritikerInnen der AfD. Ich fasse also zunächst Bebnowskis Thesen zusammen, denen ich zustimme und die weite Beachtung verdient haben.

Donnerstag, 11. Dezember 2014

Über Geschmack lässt sich nicht streiten, über Folter schon?

Der (noch) mehrheitlich von den DemokratInnen kontrollierte Senat in den USA hat einen Bericht zu den Foltermethoden der CIA im sog. "Krieg gegen den Terror" veröffentlicht. 

Klaus-Dieter Frankenberger bemerkt heute auf der FAZ-Titelseite anläßlich der Veröffentlichung und der Wirkung auf die politische Öffentlichkeit in den USA, »der Bericht und die Reaktion darauf spiegeln die politischen Verhältnisse und die Polarisierung in der amerikanischen Politik wider. Der Bericht gibt nur die Meinung der Demokraten im Ausschuss des Senats wieder. Die Republikaner sind ganz anderer Auffassung und haben einen „Minderheitenbericht“ verfasst. Hätten sie die Mehrheit im Senat und damit im Ausschuss – was erst vom kommenden Januar an der Fall sein wird –, dann hätte es den Bericht so nicht gegeben, und es würde ihn auch so nicht geben. Man kann annehmen, dass die jeweiligen Wähler die Sache ähnlich sehen«.

Über Geschmack lässt sich nicht streiten, über Folter schon? 
Was zu weit geht, geht zu weit. Ich schreibe auch über aus meiner Sicht wenig appettitliche politische AkteurInnen wie die Tea Party. Dabei bemühe ich mich immer, die eigene Position zurückzustellen, auch wenn es schwerfällt. Denn es fällt schwer, aus eigener Sicht so offensichtlich irrationale, leicht nachprüfbaren Fakten so ignorant gegenüberstehende und hysterische Bewegungen nüchtern zu betrachten, eben weil sie selbst so paranoid, eben nicht-nüchtern auftreten. Aber trotzdem ist der möglichst un-emotionale Forscherblick da sinnvoll. Aber bei Folter hört es auf, muss es m.E. aufhören. Es gibt keine Legitimation für Folter, und zwar nicht nur "auch nicht im Ernstfall gegen Terroristen", sondern gerade im Ernstfall kann es sie nicht geben. Denn: Wer außer Terroristen und irgendwelchen sadistischen Menschenfeinden sollte außerhalb von "Notfällen" und ausgedachten "die Bombe tickt"-Szenarien foltern wollen?

-Man könnte zynisch (und mit gewisser empirischer Berechtigung) sagen: Früher haben die USA es nicht selbst gemacht, sondern den Schergen der Dikatoren in Brasilien, El Salvador oder den Contras in Nicaragua das Foltern und Morden professionell beigebracht in der "School of the Americas" und diese die Drecksarbeit gegen Bauern- und Arbeiterbewegungen machen lassen. Beim "war on terror" musste die CIA dann selber ran. Hier sollte man nicht locker lassen. Es mag ein Fortschritt sein, dass der Senatsbericht der Intervention von Außenminister (und Ex-Senator) John Kerry zum Trotz veröffentlicht wurde. Eine Schande bleibt es aber, dass von Obama keine Anregung strafrechtlicher Konsequenzen zu erwarten sind. Vom Verfassungsrechts-Professor zum Drohnenkriegs-Kommandanten und nur relativ leisen Folterkritiker, das ist auch eine Karriere.

Die politische Realität provoziert einen ganz eigenen Zynismus: Schlimm genug, dass die Demokraten zu wenig Rückgrad haben, um die CIA-Folterpraxis strafverfolgen zu lassen. Es kann kein Vertun darüber geben, dass bei nächster Gelegenheit ein US-Präsident aus dem Lager der Republikaner die Foltermaschinerie wieder anwerfen würde. Die einzige "Verbesserung" gegenüber der Vergangenheit bestünde darin, die Drecksarbeit wieder von anderen als dem eigenen Geheimdienst machen zu lassen und das Ganze noch wirksamer zu verstecken. Nimmt man den Nicht-Verstoß gegen grundlegendste Verbote solcher Praktiken zum Maßstab, ist tatsächlich selbst so eine opportunistische, rückgradlose und langweilige Kandidatin wie Hilary Clinton zweifelsohne das kleinere Übel gegenüber fast jedem, den die GOP bald in den Vorwahlen aufzubieten weiß.

Wer ist »die Wirtschaft«?

Dieses Zitat von der heutigen FAZ-Titelseite bringt mich zum Nachdenken:

»In der Debatte über den wirtschaftspolitischen Leitantrag gestand der CDU-Bundestagsabgeordnete Andreas Lämmel ein, die Union habe in der gemeinsamen Regierung mit der SPD „doch einige Belastungen für die Wirtschaft konstruiert“ – er nannte Mindestlohn, Rentenbeschlüsse und das Familiengeld Plus –, die jetzt „wieder korrigiert werden“ müssten. Der Unionsfraktionsvorsitzende Volker Kauder sagte, nach den sozialpolitischen Beschlüssen, etwa zur Mütterrente, müsse es „jetzt auch einmal gut sein“; jetzt müssten „die Interessen der Wirtschaft im Vordergrund stehen“.«

Es ist die Rede von »der« Wirtschaft. Gemeint ist aber: »die Unternehmen«, noch genauer: »die einzelwirtschaftliche Perspektive der Unternehmen«. Die wirklich banale Tatsache, dass die Beschäftigten den mit Abstand allergrößten Teil der Erwerbstätigen UND der KonsumentInnen ausmachen, eben »der« Wirtschaft, scheint sich der CDU niemals aufzudrängen. Das galt übrigens 1:1 auch für Gerhard Schröder, der den Bruch mit sämtlichen SPD-Wahlversprechen von 1998 begründete mit dem dekretmäßig verkündigten Dogma: »eine Wirtschaftspolitik gegen die Wirtschaft ist mit mir nicht zu machen«. Man bemerke: gesagt wird »die« Wirtschaft, gemeint ist wieder die mikroökonomische Perspektive der Unternehmensleitung. Ab 2003 kam dann noch zur Legitimation der »Agenda 2010« die empirisch niemals stichhaltige Behauptung vom nicht wettbewerbsfähigen »Standort Deutschland« hinzu.
Ich hab neulich ein ganzes Buchkapitel darüber geschrieben, dass in Deutschland die Mehrheit der Leute mit außenwirtschaftlichen Fragestellungen kaum in Berührung kommen und zugleich unbewusst eher einer neoklassisch gefärbten Sicht auf den Arbeitsmarkt zustimmen. In dieser Sicht kann man einen Mindestlohn tatsächlich nur rechtfertigen als sozial- und gerechtigkeitspolitische, aber niemals als wirtschaftspolitisch sinnvolle Maßnahme (aller empirischen Evidenz über unzureichende Lohnsteigerungen, gesunkene Tarifbindung und stagnierende Binnennachfrage zum Trotz). Aber demokratiepolitisch noch erheblicher scheint mir zu sein, dass wenn von »die Wirtschaft« die Rede ist, im Grunde immer »die Arbeitgeber« bzw. »die Einzel-Unternehmen« gemeint sind.
-Denn was, wenn irgendwann der Tarifvertrag wieder unter Beschuss gerät, weil »die Wirtschaft« es so will? Oder die Mitbestimmung? Was, wenn die Werkverträge auch die nächsten Jahre weiter missbraucht werden können, weil »die Wirtschaft« für den gegenteiligen Fall den Untergang des Abendlandes an die Wand malt? Es ist, als hätten die Leute das grundlegende Arrangement des Kapitalismus (die kollektiv erwirtschafteten Werte werden rechtlich sanktioniert vom Produktionsmittelbesitzer angeeignet, die Lohnabhängigen müssen 'ihren Anteil' zurück-erstreiten) bis zum Geht-nicht-weiter verinnerlicht.

Selbst wohlmeinende Linke gehen diesem Hegemonie-Effekt auf den Leim, wenn sie »dem Volk« ausgerechnet »die Wirtschaft« gegenüberstellen (siehe Foto).
Achtung, ein Müsst-i-zysmus: Eigentlich müsste man vor dem CDU-Parteitag demonstrieren für einen radikalen wirtschaftspolitischen Kurswechsel, mit dem Motto: »DIE WIRTSCHAFT« SIND WIR!

Zum Schluss Antonio Gramsci (denn Marxisten müssen immer mit einem Zitat schließen, das sie besonders klug aussehen lässt):
»Die Philosophie der Praxis... ist nicht das Regierungsinstrument herrschender Gruppen, um den Konsens zu haben und die Hegemonie über subalterne Klassen auszuüben; sie ist der Ausdruck dieser subalternen Klassen, die sich selbst zur Kunst des Regierens erziehen wollen und die daran interessiert sind, alle Wahrheiten zu kennen, auch die unerfreulichen...«.

Mittwoch, 29. Dezember 2010

Mut zur Voodoo-Ökonomie!

Eine notwendige Polemik gegen politische Irreführung in der Seeheimer Märchenstunde von Garrelt Duin

von Alban Werner, Aachen

I.


Die Seeheimer sind wieder da. Es war ja eine ganze Zeit ruhig in der SPD. In Rekordzeit schien sich die Partei vom katastrophalsten aller Wahlergebnisse vom September 2009 erholt zu haben. Kein Wunder – denn die Zeit ab dem Winter des vergangenen Jahres bestätigte die alte soziologische Weisheit, dass auch eine innerlich verunsicherte, in verschiedene Richtungszusammenschlüsse und Weltbilder gespaltene Organisation durch die Konfrontation mit einem äußeren Feind zu einem handlungsfähigen Akteur zusammengeschweißt werden kann. Wenn das Gegenüber nur fies genug ist, kann man zumindest eine Weile ignorieren, dass einem selbst etliche der eigenen ParteifreundInnen politisch auch nicht immer besonders gut riechen. So konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der SPD-Mitglieder auf politische Anstrengungen gegen die schwarz-gelbe Bundesregierung unter Angela Merkel. Und Angies Truppe gab ja im ersten Jahr ihrer Amtszeit auch eine herrliche Zielscheibe ab: Ob Steuergeschenke an Hoteliers oder Besserverdienende, der himmelweit nach Ungerechtigkeit schreiende Zuschnitt des soeben verabschiedeten „Sparpakets“, die dem ML-Lehrbuch alle Ehre machende Klientelpolitik für Energiekonzerne im staatsatommonopolistischen Kapitalismus – selbst ein Schütze ohne Augenlicht und Hörvermögen hätte ohne jeden Zweifel ins Schwarz-Gelbe getroffen.

Doch jetzt ist es nicht mehr so einfach. Tatsächlich könnte die Landtagswahl in NRW die vorläufig letzte gewesen sein, bei der Rot-Grün, die koalitionspolitische Lieblingsfarbe der SPD, auf eine Unterstützung der LINKEN in einem Parlament angewiesen sein wird. Den Zeitraum zwischen Bundestagswahl 2009 und der Bildung der Landesregierung von Hannelore Kraft überstanden SPD wie LINKE nicht ohne Blessuren, die allerdings weniger schlechte Träume hinterlassen haben dürften als das Szenario in Hessen 2008. Trotzdem würden nicht wenige SozialdemokratInnen aufatmen, wenn es demnächst ohne DIE LINKE geht – diese lästigste und dauerhaft Fleisch gewordene Erinnerung daran, was man ab 1999 vom sozialdemokratischen Gerechtigkeitsversprechen aufgegeben hatte. Aber wenn es demnächst mal wieder für Rot-Grün reicht, dann nicht allein, weil sich die SPD wieder auf das Niveau elektoraler Unterstützung wie vor der Katastrophe von 2009 regeneriert hat (Angies und Guidos Absturz sei Dank!), sondern weil die Grünen in den Umfragen in unbekannte Höhen vordringen, where no post-modern post-left petit bourgeois has gone before.
Das kann SozialdemokratInnen sicherlich nicht unberührt lassen, sind die Bündnisgrünen historisch zumindest teilweise Fleisch von ihrem Fleisch. Zwischen den Grünen und der CDU sieht Garrelt Duin, niedersächsischer Bundestagsabgeordneter und Mitglied im „rechten“ Seeheimer Kreis der SPD, das Profil seiner Partei zerrieben. Und als zirkulierten nicht schon weit genug Papiere von Think Tanks und Führungsfiguren der Partei, fügt der Seeheimer dem noch eines hinzu, und stört damit den gerade erst einigermaßen als konsolidiert geglaubten Parteifrieden, den zuletzt nur ein schnauzbarttragender Bundesbanker mit seinem bevölkerungspolitischen Programm gestört hatte.

II.


Duin will so überhaupt nicht einsehen, dass dieselbe Politik, die er und seine Strömung vertreten, mit dem Absturz der SPD von 2009 etwas zu tun haben könnte. Deswegen schreibt er: > Die SPD hat bei ihrem Machtverlust 2009 mehr Wähler an Union und FDP als an die Linkspartei verloren – es war der Zugang zur Mittelschicht, zur "bürgerlichen" Welt, der die Partei regierungsfähig gemacht hatte < (S. 1)[1]. Das ist zunächst korrekt. Nach einem Artikel in der ZEIT sind von der SPD zur LINKEN ca. 1.111.000 WählerInnen, zur Union ca. 870.000, zur FDP ca. 520.000 WählerInnen abgewandert. Was Duin allerdings unterschlägt, ist der definitiv deutlichste Einzelposten beim sozialdemokratischen Aderlass: Zu den Nicht-WählerInnen wanderten nämlich sogar ca. 2.130.000 frühere SPD-UnterstützerInnen[2]. Nur dank dieser Unterschlagung kann Duin an der Behauptung festhalten, mit einer Re-Sozialdemokratisierung der SPD seien die ehemaligen Wählerinnen und Wähler nicht zurückzugewinnen. Dass ihm dabei die erfolgreichen Wahlkampagnen von Andrea Ypsilanti in Hessen 2008, die gegen den Bundestrend beinahe eine rotgrüne Mehrheit erreicht hätte, und die ähnlich angelegte Wahlstrategie von Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen 2010 definitiv widersprechen, übergeht der Seeheimer ebenso. Und so kommt er zum völlig kontrafaktischen Ergebnis: > Nirgendwo in Europa hat in den vergangenen
Jahren eine traditionslinke Sozialdemokratie die Macht erobert oder behauptet < (S. 2). Begeht man nicht das Kunststück, Segolène Royal zur Traditionssozialdemokratin zu stempeln, dann ist der Befund schlicht falsch. In keinem europäischen Land stand für die WählerInnen eine „traditionslinke“ Sozialdemokratie zur Wahl. Nicht zuletzt, weil seit den neunziger Jahren sich immer mehr sozialdemokratische Formationen in Europa auf den Holzweg des „Dritten Weges“ (oder wahlweise der „neuen Mitte“) begeben hatten, dessen letzte Bastion jetzt in Spanien unter dem Diktat knallharter Austeritätspolitik dem Boden gleichgemacht wird. Die europäische Sozialdemokratie hat das historische Zeitfenster am Ende der 90er Jahre, als in 13 Ländern der damaligen EU-15 SozialdemokratInnen regierten, nicht genutzt, um den Finanzmarktkapitalismus an die Kette zu legen, die Europäischen Integration vom Imperativ der ökonomischen Liberalisierung und Privatisierung zu lösen und für demokratische und soziale Rechte zu kämpfen. Stattdessen beschloss man vor zehn Jahren die sog. „Lissabon-Strategie“, mit den bekannten Folgen. Vor dem Scherbenhaufen dieser Fehlentscheidungen und Unterlassungen steht nun auch die SPD, und mit ihr Garrelt Duin. Die SPD hat mit ihrer radikalen Ablösung von den programmatischen Versprechen der historischen Sozialdemokratie und ihrer arroganten Ignoranz gegenüber den Wünschen und Interessen der Bevölkerung dazu beitragen, dass sich die professionelle Politik immer stärker von den „einfachen Leuten“ angekoppelt hat. Deswegen finden scheinbar unpolitische Führungsfiguren, die der Politikerkaste zeigen, wo der Hammer hängt, starken Zuspruch – ob sie Horst Köhler oder Thilo Sarrazin heißen. Deswegen, und nicht weil man die reaktionären Einlassungen von Joachim Gauck zu Erwerbslosen und anderen armen Schluckern befürwortete oder überhaupt nur kannte, traf der Kandidat von Rot-Grün für das Amt des Bundespräsidenten auf so starke Sympathie, und nicht, wie Duin glaubt, wegen seines Umgangs  > mit den Begriffen ‚Freiheit‘ und ‚Bürgerlichkeit‘ < (S. 2).

III.


Schauen wir uns zuletzt die Ausführungen vom Seeheimer Garrelt Duin an und betreten das Reich der Voodoo-Ökonomie. Wie jemand es fertig bringen kann, das hohe Lied der „guten Arbeit“ zu singen und zugleich die definitive Unterordnung der Arbeitenden unter die Imperative kapitalistischer Verwertung zu bejubeln, das kann man hier in selten deutlicher zur Schau gestellten Schizophrenie (oder Heuchelei) sich anschauen.
> Zentrales Feld der SPD muss die Erneuerung der Idee der Arbeitsgesellschaft sein. Dabei geht es uns um die Inklusion in die Arbeitsgesellschaft, um die humane Gestaltung der Arbeit und nicht zuletzt um die Selbstbestimmung <, heißt es zunächst (S. 2). Aber nach einem obligatorischen Lippenbekenntnis zu Kündigungsschutz, Mindestlohn, Mitbestimmung und sogar „Arbeitszeitsouveränität“ folgt die klare Ansage, dass > dass die eingeleiteten Reformen, die die Aufnahme von Arbeit attraktiver gemacht haben, richtig waren. Die Fixierung von materieller Unterstützung mündet in Ausgrenzung. Sie untergräbt langfristig bei vielen Menschen, die dazu grundsätzlich willens und in der Lage sind, die notwendige Bereitschaft zur Solidarität. Anreize, langjährig nicht zu arbeiten, sind unverantwortlich. Sie führen zur Spaltung der Gesellschaft in dauerhaft Erwerbstätige und dauerhaft Erwerbslose < (S. 2).

Garrelts stereotypes Lob des Arbeitszwangs ist nur das wenig originelle Spiegelbild von Lobgesängen auf das bedingungslose Grundeinkommen als Universalschlüssel für alle Probleme der Arbeitsgesellschaft. Beide sind naiv, weil sie vernachlässigen, dass Arbeit, also genauer der Einkauf der Ware Arbeitskraft, in einer kapitalistischen Wirtschaft nur dann erfolgt, wenn sich die ProduktionsmittelbesitzerInnen Gewinn davon versprechen, und sonst eben nicht. Die Lohnabhängigen sind mangels Alternative für ihr materielles Überleben gezwungen, Arbeitsplätze auch dann anzunehmen, wenn sich mit dem dadurch erworbenen Einkommen ihr Lebensstandard und ihr kulturell-sozialer Status nicht halten lassen. Diese Zwangssituation wurde durch alte das Arbeitslosengeld, das sich am letzten Arbeitseinkommen orientierte, zumindest gemildert. Durch die krasse Abschwächung dieses Äquivalenzprinzips mit "Hartz IV", durch Aufhebung aller Grenzen von „Zumutbarkeit“ werden die Ansprüche der Lohnabhängigen an ihre Arbeit (was Einkommen, Qualität, Standort,  Mitbestimmungsmöglichkeiten usw. angeht), massiv zurechtgestutzt. Duin flunkert den Menschen etwas vor, wenn er so tut, als könne man die zusätzliche Erpressbarkeit von immer weiteren Teilen der lohnabhängigen Bevölkerung, die darauf zurückführende Explosion prekärer Arbeit einerseits und luftige Vorstellungen von "guter Arbeit" andererseits zusammenbringen. Duins "Inklusion" ist nur eine leere Formel, weil sie die Einbeziehung des Arbeitskräftepotentials in eine zunehmend zerklüftete Arbeitswelt um jeden Preis meint -von der Leiharbeiterin zum Minjobber -, die aber einen Abbau sozialer und demokratischer Rechte bedeutet.

Die Sozialstaatskritik wird nicht minder originell an späteren Stellen fortgesetzt. Duin befürwortet eine Reduzierung von Sozialtransfers zugunsten von mehr sozialer Infrastruktur (S. 2-3). Er beklagt nicht zu Unrecht die unzureichende Förderung von Bildungsinstitutionen. > Es wird nicht genügend Geld bereitgestellt, um diese Angebote zu finanzieren. Stattdessen fließen Milliarden-Summen unabhängig von der Bedürftigkeit in die privaten Haushalte und heben dort den Lebensstandard ein wenig. Richtig wäre, einen großen Teil dieser Milliarden für Ganztagseinrichtungen auszugeben < (S. 3). Nun gibt es auch in nicht-sozialdemokratischen linken Organisationen Diskussionen über „Sozialpolitik als soziale Infrastruktur“ oder „Infrastruktursozialismus“ als Alternative zum konservativ-korporatistischen deutschen Wohlfahrtsstaat. Aber beim genaueren Hinsehen interessiert sich der Seeheimer Duin gar nicht wie linksgrüne, feministische und sozialistische SozialpolitikerInnen dafür, die Privilegierung der Mittelschichten in diesem Sozialstaat zu beenden. Es geht um eine interne Umverteilung ohne zusätzliche Einnahmen. Das Problem beim „kollektiven Konsum“ von sozialstaatlichen Leistungen als soziale Infrastruktur ist allerdings, dass viele solcher Angebote „komplementäre Güter“ darstellen, das heißt: Selbst wenn sie kostengünstiger als privatwirtschaftliche Angebote oder kostenlos sind, kann man sie nur dann in Anspruch nehmen, wenn man über ein bestimmtes Einkommensniveau und/ oder genug „kulturelles Kapital“ verfügt. Seine Sprösslinge auf die Uni zu schicken, kann sich nicht jede Familie leisten, Studiengebühren hin oder her. Nicht zufällig gelang „ArbeiterInnenkindern“ in der BRD der Sprung ins Studium dank gleichzeitigem Ausbau der Hochschulen UND Einführung des BAföG zur Zeit der sozial-liberalen Koalition. Aber von derart Umverteilung will Duin nichts wissen.

Im Gegenteil, die der SPD bevorstehende Aufgabe wird ganz anders buchstabiert.  
> Gerechtigkeit können wir aber nicht organisieren, wenn wir zentrale Elemente des Sozialstaates bewusst in ihr finanzielles Ende laufen lassen. Deshalb müssen wir die künftige Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme und anderer staatlicher Aufgaben auf stabile Füße stellen. Nebulöse Versprechen werden wir nicht einhalten können. Es führt kein Weg an mehr privater Vorsorge und an größerer Flexibilität bei Renteneintritt und Lebensarbeitszeit vorbei < (S. 3).

Moment mal – sind uns gerade nicht die Finanzmärkte um die Ohren geflogen, wurde nicht offenbart, wie wenig vorteilhaft es für Volkswirtschaften als ganze und Alterssicherung von Einzelpersonen ist, wenn riesige, aus individuellen Beiträgen zur Privatrente bestehende Kapitalmassen auf Jagd nach beständigen Erträgen um den Erdball jagen – in der vergeblichen Hoffnung, man könne Sozialausgaben anders finanzieren als durch das Aufkommen der aktuellen ökonomischen Periode („Mackenroth-These“)?
Duins Behauptung ist so unoriginell wie falsch. Wenn nichts mehr hilft, dann wird der gute alte TINA-Soundtrack wieder aufgelegt: „There Is No Alternative“. Dass soziale Sicherung auf hohem Niveau nicht finanzierbar sei, stimmt aber nur, wenn man alle Einkunftsarten außer dem Lohn weiterhin von Belastungen verschonen und den Besserverdienenden eine An- oder Aufhebung von Beitragsbessungsgrenzen nicht zumuten will. Und dass die von der SPD verantwortete Expansion schlecht bezahlter Arbeit etwas mit dem gesunkenen Beitragsaufkommen zur sozialen Sicherung zu tun haben könnte - das zu verstehen, ist von  SeeheimerInnen wie Duin wahrscheinlich schlicht zu viel verlangt.

Überhaupt: Den Gegensatz oder meinetwegen die „Konfliktpartnerschaft“ von Kapital und Arbeit gibt es in der Diktion der SeeheimerInnen nicht mehr. Das Feindbild sind auch nicht die anonyme Herrschaft der Kapitalakkumulation über Gesellschaft und Politik; stattdessen meint man Furcht vor > staatlichen Entmündigung von Eigenverantwortung durch schlichte Versorgung < säen zu müssen (S. 3). Der Leser stutzt. Wer will denn so etwas überhaupt? Garrelt Duin gibt die Antwort: Natürlich DIE LINKE. > Sie nutzt den Gegensatz zwischen arm und reich, um als demagogische Botschaft jedem eine gute Versorgung auf Kosten der Allgemeinheit zu versprechen – also nichts anderes als dauerhafte Abhängigkeit vom Staat. < (S. 3). Dass DIE LINKE Vorschläge für eine Politik der Vollbeschäftigung durch sozial-ökologische Zukunftsinvestitionen macht, dass sie viele neue Arbeitsplätze im kulturellen, sozialen und ökologischen Bereich schaffen will – wen kümmert’s.

Dass Duin ebenso laut zur Attacke gegen Ansprüche auf soziale Gerechtigkeit bläst, wie er auffällig zu Privilegien der Reichen und Besserverdienenden schweigt, sagt eigentlich mehr als jedes geschriebene Wort in seinem Papier. Der „Seeheimer“ Kreis trägt als ständige Feindprojektion das Zerrbild des faulen Transferleistungsempfängers vor sich her, der der treuen steuerzahlenden Bürgerin parasitär auf der Tasche sitzt. Kein Wort aber hören wir zu den Banken und Rentiers, denen die Europäische Union mit Hilfe von SozialdemokratInnen in Griechenland, Spanien und Portugal ein „free lunch“ organisiert wird: Ihre Ansprüche auf leistungslose Einkommen stehen nicht zur Debatte.
Wenn Duin am Ende seines Papiers „offene Fragen“ auflistet und wortwörtlich > Lässt sich die Forderung nach gleichen Lebensverhältnissen in ganz Deutschalnd[3] aufrecht erhalten ? < (S. 6) zur Diskussion stellt, dann ist das nur konsequent. Die Antwort des Seeheimer Kreises freilich kann nur „nein“ lauten: Wer die schlechte Realität des heutigen Kapitalismus so deutlich für sakrosankt erklärt, der muss logischerweise auch die letzten Überreste sozialdemokratischer Gleichheitsversprechen aufgeben. Und mit der „Schuldenbremse“ hat die SPD bereits bewiesen, dass sie für die Liquidierung ihrer eigenen Ziele sich nicht zu schade ist, sogar Seit‘ an Seit‘ mit den „bürgerlichen Parteien“ die Verfassung zu ändern.


[1] Alle Seitenverweise beziehen sich auf das Papier „Mut zur Sozialdemokratie“ von Garrelt Duin, online unter
[3] Tippfehler im Original, A.W.

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